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(6) Österlich Schönes

 

23. April 2020

 

Als Rückblick auf Ostern,

gewissermaßen: ein Kapitell von ganz außergewöhnlicher klassischer Schönheit im Dom zu Todi in Umbrien aus der Mitte des 13. Jahrhunderts oder schon etwas früher. Das Antlitz Christi, streng en face, erinnert mich an byzantinische Bilder dieser Zeit, besonders an die Fresken von Sopo?ani in Südserbien. Die Kunstgeschichte sieht in den Kapitellen von Todi den Ausklang der mittelitalienischen Romanik – man möchte sagen: im goldenen Abendlicht – , aber bereits auch Anklänge an die frühe Gotik aus Frankreich. Jedenfalls dürften die genialen Steinmetze von Todi in jener „Schwellenzeit“ noch Kaiser Friedrich II und Ludwig IX, den Heiligen, von Frankreich sowie Thomas von Aquin erlebt haben…

Das hieratische Antlitz des Patokrators hat etwas vom Geist der ganz frühen Ikonen, das ihn rahmende Akantus-Blattwerk gemahnt natürlich an die Klassische Antike: unwillkürlich kommt einem dabei der Begriff der staufischen Renaissance in den Sinn. Die beiden Weinstöcke, aus denen Christus gleichsam erwächst, lassen natürlich an das Herrenwort in Johannes 15 V. 5 denken: „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben“. Unser Kapitell sticht innerhalb der Bauplastik des Doms in mehrfacher Hinsicht heraus: es ist genau in der Mitte des Hauptschiffes an prominenter Stelle an einem Pfeiler angebracht und nicht an einer Säule.
Im Dom zu Todi gibt es aber auch eine Vielzahl anderer wunderschöner Skulpturen, mich haben dabei einige „korinthische“ Kapitelle mit scheinbar vom Wind heftig zerzausten Akantusblättern besonders fasziniert:

Hört man da nicht förmlich den Wind pfeifen? Eine ähnliche Kinetik kommt mir in Werken jener Zeit in unseren Ländern oder in Italien nicht in den Sinn, aber vielleicht fallen Euch doch Vergleichsbeispiele ein… Indessen musste ich an unsere Syrienreise im Jahr 2010 denken, und zwar an die Kapitelle in der Al-Halawiyah-Medrese in Aleppo (ca. 1150).
Auch hier der Eindruck von Blättern, die von heftigen Windstößen aus unterschiedlichen Richtungen zerzaust werden. Bei genauerem Hinsehen bemerkt man übrigens, dass diese Kapitelle an den oberen Ecken kleine Kreuze im Kreis aufweisen: die muslimischen Architekten des 12. Jahrhunderts verwendeten Spolien eines christlichen Baus des 5. oder 6. Jahrhunderts – höchstwahrscheinlich von der St. Helena (!)-Kathedrale vor Ort wieder; sie dachten nicht im entferntesten daran, die diskreten Symbole des Christentums von der Bauplastik zu entfernen: übrigens kein Einzelfall in der islamischen Architektur des Nahen Osten; ob Christen oder Muslime: man sah sich allemal als Erben der großen Klassischen Antike…
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